Interview mit François Bausch im Télécran

"Es gibt keinen Riss"

Interview: Télécran (Martina Folscheid)

Télécran: Herr Minister, wie haben Sie die Sicherheitslage, auch die Luxemburgs, vor dem Ausbruch des Krieges empfunden? Und wie beschreiben Sie sie heute?

François Bausch: Die Sicherheitslage speziell in Luxemburg war vor einem Jahr nicht viel anders als heute, wenn man von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Krieges absieht. Doch generell wurde die Sicherheitslage schon in den letzten zwei, drei Jahren immer angespannter. Eigentlich begann es bereits mit dem Überfall der Krim, dem Georgien-Krieg, dem Konflikt zwischen Moldawien und Transnistrien. Genügend Momente in der Vergangenheit deuteten darauf hin, dass Russland immer aggressiver wird und die internationale Situation sich in puncto Sicherheit nicht verbessert.

Zugegebenermaßen begriffen die USA viel früher als Europa den Ernst der Lage. Die Europäer verharrten viel zu lange in einem Schema, in dem die Sicherheitseinschätzung von wirtschaftlichen Interessen überlagert war. Der Ausbruch des Krieges bewirkte die berühmte "Zeitenwende". Erwacht sind sie aber bereits nach der Evakuierung Kabuls im August 2021. Bald folgte der Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Die Auffassung, was Europa in puncto Sicherheit und Verteidigung tun muss, ist seitdem eine ganz andere geworden. Es hat sich viel zum Positiven gewandelt. Was mich vor allem beeindruckt, ist die Solidarität, die in Europa im Kontext des Krieges besteht.

Télécran: Haben Sie mit einer so geeinten Reaktion der westlichen Staaten gerechnet?

François Bausch: Mit allem, was der Krieg mit sich gebracht hat: Es ist kein Riss festzustellen. Abgesehen von Ungarn, das sowieso seit einigen Jahren eine Sonderrolle in Europa spielt. Aber der Rest ist ziemlich geeint. Hätte man mich allerdings vor anderthalb Jahren gefragt, hätte ich mit Nein geantwortet. Aber die Lage hat sich geändert. Ein Beispiel: Der "Strategische Kompass" (ein Aktionsplan zur Stärkung der Verteidigungszusammenarbeit der EU, Anm. d. R.) wurde nach langwierigen Verhandlungen, kurz nach der russischen Invasion, am 21. März 2022 von den europäischen Staats- und Regierungschefs angenommen. Das heißt der Wille, eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aufzubauen, ist viel stärker geworden. Diese Veränderung bringt jedoch mit sich, dass die Länder nationale Souveränitätsrechte an die Europäische Union abgeben müssen.

Télécran: Inwiefern trägt Luxemburg zu der Stabilität bei?

François Bausch: Wir haben zwar als kleines Land weniger Mittel, um Materialkapazitäten zur Verfügung zu stellen. Darum ist ja auch die Diskussion rund um die Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Luxemburg abwegig. Wir hätten die Kapazitäten gar nicht, um das Ziel umzusetzen. Aber Luxemburg war eines der ersten Länder, die der Ukraine massiv militärische Mittel zur Verfügung gestellt haben. Im Rahmen unserer Möglichkeiten, wie gesagt. Wenn es darauf ankommt, sind wir da. Einen solchen Angriff gab es in der Nachkriegszeit noch nicht. Man darf es nicht durchgehen lassen. Wir müssen dafür sorgen, dass er kein Erfolg wird.

Télécran: Sie loben die schnelle Reaktion Luxemburgs: Bringen Sie denn im Gegensatz dazu Verständnis für das zögerliche Verhalten von Bundeskanzler Olaf Scholz im Hinblick auf Panzerlieferungen auf?

François Bausch: Mir ist ein Deutschland lieber, das sich auf Basis seiner geschichtlichen Erfahrung zögerlich zeigt und nachdenkt, bevor es Waffen liefert, als wenn das Gegenteil der Fall wäre. Ich kann verstehen, dass ein Land wie Deutschland, angesichts der eigenen Geschichte, damit viel mehr hadert. Darum respektiere ich dies. Ich meine aber, dass es momentan generell betrachtet falsch ist, darüber zu diskutieren, ob man Waffen liefern soll oder nicht. Aber man muss ganz klar abwägen, sprich: entsprechend dem Völkerrecht nur dann etwas liefern, wenn ein Land, das angegriffen wird, darum bittet, weil es sich sonst nicht wehren kann. Wir sollen natürlich nicht zum Spaß die Ukraine aufrüsten. Gerade wird über die Lieferung von Kampfjets diskutiert. Ich finde es nicht gut, diese kategorisch abzulehnen. Wenn es bei konventionellen Waffen bleibt, sollte man a priori kein Tabu aufstellen.

Télécran: Gäbe es denn überhaupt eine Alternative zu Waffenlieferungen?

François Bausch: Nein. Wir liefern ja nicht Waffen, weil das interessant für uns wäre. Luxemburg kann zum Beispiel auch nicht in den Verdacht geraten, die eigene Rüstungsindustrie zu unterstützen, weil es keine gibt. Es gibt momentan keine Alternative zu Waffenlieferungen. Die Ukraine muss sich verteidigen können. Dieser Krieg wird irgendwann zu Ende gehen, und die Verhandlungen müssen so ablaufen, dass der Ukraine nicht irgendetwas diktiert wird, sondern dass sie erhobenen Hauptes am Verhandlungstisch sitzt.

Télécran: Im März 2022 wurde bereits die Idee eines Abkommens besprochen, das einen Rückzug Russlands hinter die Grenze vor der Invasion vorsah, in dem die Ukraine sich verpflichtet, nicht der Nato beizutreten. Wie stehen Sie heute, ein Jahr später, dazu?

François Bausch: Es wurde verhandelt, ja. Und es heißt immer wieder man sei doch nahe dran an einem Abkommen gewesen. Aber ich frage mich, wie die Leute an solche Informationen kommen. Die Ukraine hat versucht zu verhandeln, ja. Aber das Ganze lief auf ein Diktat hinaus, das die Ukraine gezwungen hätte, einen Teil ihres Territoriums abzutreten. Russland war bisher nie ernsthaft an einem Abkommen interessiert. Pulli hat sich an nichts gehalten, zu keinem Moment Meiner Einschätzung nach hatte er von Anfang an genau das im Visier, was er jetzt tut.

Télécran: Auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest wollte der damalige US-Präsident George W. Bush eine grundsätzliche Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel legte ihr Veto ein, wie beurteilen Sie dies rückblickend?

François Bausch: Nicht nur Deutschland, auch Frankreich sprach sich dagegen aus. Das Thema war also eigentlich vom Tisch. Also, die Option der Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft ist ein purer Vorwand Putins gewesen, um einzumarschieren.

Télécran: Hätte man also auch 2014 bei der Annexion der Krim Putin klarer Grenzen aufzeigen müssen?

François Bausch: Ja, definitiv. Die Amerikaner haben damals verstanden, welches Risiko auf uns zukäme. Die Europäer waren, ich will nicht sagen naiv, aber sie hatten anderes im Kopf. Eher wirtschaftliche Interessen als die Sicherheit Europas. Das muss man so sagen, wie es ist. Das ist eine wichtige Lehre für die Sicherheitsarchitektur, die wir nun vor dem Hintergrund dessen aufbauen, was dort geschehen ist.

Télécran: Sollte bei den nächsten US-Wahlen ein Präsident gewählt werden, dem die Mitgliedschaft in der Nato völlig egal ist, wie wird es dann um die Sicherheitsarchitektur in Europa bestellt sein?

François Bausch: Also ich hoffe ja, dass das nicht passiert. Und ich bin optimistisch, dass ein solches Szenario, ein US-Präsident, der mit Europa nichts mehr zu tun haben will, nicht eintreten wird. Dennoch muss Europa sich mehr um seine eigene Sicherheit kümmern. Nehmen Sie das Beispiel der Evakuierung des Flughafens von Kabul: Allein so schnell mit ein paar tausend Soldaten den Flughafen abzusichern, um die Flüchtenden rauszuholen - ohne Amerika wäre dies nicht möglich gewesen.

Télécran: Sie sind also der Meinung, eine europäische Armee, eine Eingreiftruppe tut Not?

François Bausch: Ja, das muss alles kommen. Alles andere ist nicht mehr effizient. Und es wird im Endeffekt billiger. Ich bin ein Verfechter des Prinzips "Pooling and Sharing" (Bündeln und Teilen militärischer Fähigkeiten, Anm. d. R.), darum haben wir auch viel investiert in Programme wie die "Multinational Multirole Tanker Transport Unit", eine Tankflugzeug-Flotte vom Typ Airbus A330 MRTT. Wir sind mit sieben Ländern in einem Verbund, organisieren die Flotte gemeinsam, teilen uns die Kosten. Auf diese Weise schaffen wir einen europäischen Schutzschirm, mit dem wir unsere Werte zukünftig viel besser absichern können. Für eine europäische Eingreiftruppe benötigen wir eine voll funktionsfähige europäische Kommandostruktur. Es darf nicht so sein, dass man sich erst mit 27 Ländern bespricht, bevor diese Eingreiftruppe in den Einsatz gehen kann. Klar muss der Einsatz gemeinsam beschlossen werden, aber wie die Truppe agiert und was sie macht, dafür muss es eine voll funktionsfähige Kommandostruktur auf EU-Ebene geben.

Télécran: Wie bewerten Sie die Chancen für die Durchsetzbarkeit einer solchen Kommandostruktur?

François Bausch: Der Rat für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel hat den strategischen Kompass der EU vor etwa einem Jahr angenommen. Ich sagte damals, dass nun das Einfachste getan ist und das Schwierigste noch vor uns liegt: die Umsetzung. Auch in diesem Punkt kann Luxemburg wieder Pionierarbeit leisten. Das luxemburgisch-belgische Aufklärungsbataillon, das bis 2028 aufgebaut werden soll, ist ein tolles Beispiel, wie die Zusammenarbeit funktionieren kann. Zwei Länder, die gemeinsam agieren, mit einer einzigen Kommandostruktur. Das 700 Mann starke Kontingent, bestehend aus Soldaten beider Länder, wird in Arlon stationiert. Und dort werden dann nicht zwei Stabsoffiziere darauf beharren können, über dieselben Rechte zu verfügen. Dieses Beispiel könnte Schule machen, zum Beispiel in den baltischen Ländern. Wir haben bereits eine Kommandostruktur auf EU-Ebene, aber sie ist noch zu schwach, um größere Einsätze leiten zu können.

Télécran: Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, wirbt im "Stern" dafür, sich viel massiver im Globalen Süden zu engagieren, damit dort das Narrativ Russlands, die Länder seien Opfer der Fortführung des Kalten Krieges, weniger stark greift...

François Bausch:...und er hat damit hundertprozentig recht. Afrika ist ein typisches Beispiel. Dort hat Europa eine enorme Bringschuld. Europa hat Afrika kolonialisiert. Und für viele Missstände, die es dort heute gibt, sind wir historisch betrachtet verantwortlich. Das ist aber nicht der einzige Grund für den Zustand des Kontinents. Ein weiterer sind Einflussnahmen von China und Russland, die sich dort massiv ausbreiten, um sich Rohstoffe zu sichern, und ihre Interessen verfolgen. Wir dürfen Afrika nicht allein lassen, aber auch nicht von oben herab diktieren. Der Kontinent ist, bedingt durch seine Nähe zu uns, extrem wichtig für Europas Sicherheit. Wenn in der Sahelzone ein Bürgerkrieg ausbricht, kommen Millionen Flüchtlinge zu uns. Die sind in zwei Sekunden in Europa.

Télécran: Sie haben angekündigt, nach den Parlamentswahlen am 8. Oktober keine Regierungsverantwortung mehr übernehmen zu wollen. Wie realistisch ist es, dass bis dahin der Krieg beendet ist?

François Bausch: Meiner Ansicht nach befinden wir uns in einer sehr bedeutenden Phase. Die nächsten vier, fünf Monate werden entscheidend sein. Wir hoffen alle, dass bis zum Sommer eine Brücke zwischen beiden Konfliktparteien gefunden wird und wir in einen Dialogprozess treten können, in Friedensvertragsverhandlungen. Aber ich kann unmöglich eine genaue Vorhersage treffen.

Télécran: Hegen Sie die Hoffnung, dass Putin aufgibt?

François Bausch: Auch in Russland leidet die Bevölkerung. Die wirtschaftlichen Sanktionen zeigen Wirkung. Das Land ist momentan in der Welt extrem isoliert. Es wird angeführt von einem extrem brutalen diktatorischen Regime. Ich bin der Meinung, dass wir uns die Geschichte Russlands nicht genau genug angeschaut haben. Putin kann man im Prinzip in direkter Linie von Stalin sehen, er kommt aus dem früheren KGB-Apparat. Ich denke, man hätte Gorbatschow damals viel mehr unterstützen sollen, um einen langsameren Übergang hin zur Demokratie zu schaffen. Damals, ich sage es mal so, hoffte der Westen, schnell von dem Regime wegzukommen. Rückblickend betrachtet weiß ich nicht, ob das so klug war. Russland hat seine eigene Geschichte nie richtig aufgearbeitet. Man darf nicht vergessen, dass auch das Zarenregime extrem expansionistisch war. Die russische Revolution ist entstanden vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges. Lenin ging von der Schweiz, wohin er vor Zar Nikolaus 11. geflohen war, 1917 zurück nach Russland. Das war nur möglich, weil ihm die Schweiz, Deutschland und andere Länder halfen, in der Hoffnung, den Zaren mit seiner Kriegslogik endlich zu stoppen. Das heißt, in Russland gibt es eine gewisse Kontinuität in der expansionistischen Haltung, im Nationalismus, der dort existiert.

Télécran: Eine Frage treibt viele Menschen um: Wie kommt es, dass ausgerechnet die grünen Parteien verschiedener Länder sich so vehement für Waffenlieferungen aussprechen?

François Bausch: Das überrascht aber nicht so sehr, weil es in vielen grünen Parteien schon vor längerer Zeit zu einer Zäsur kam. In Deutschland durch die Bosnien-Intervention, dort ist zu dem Zeitpunkt diese Diskussion geführt worden. Auch ich sage ja immer, dass ich nie Pazifist gewesen bin. Ich bin gegen Aufrüstung gewesen in den 80er Jahren, die zum Ziel hatte, Russland in die Knie zu zwingen. Das habe ich als gefährliche Logik empfunden. Aber es hatte nichts mit Pazifismus zu tun. Ich vertrat immer schon die Auffassung, dass ein Volk das Recht haben muss, sich gegen einen Unterdrücker zu wehren, auch mit Waffengewalt.

Télécran: Herr Minister, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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